Anja ist ein fröhliches, liebenswertes Mädchen. Mit ihren dunkelbraunen Locken und den großen blauen Augen muss man sie einfach gerne haben. Die Eltern dieses reizenden Mädchens sind so glücklich über ihre Tochter, die sie nach zwei Buben bekommen haben. Anja ist der Sonnenschein der ganzen Verwandtschaft: Sie ist immer gut gelaunt, spielt selbstständig mit ihren Puppen und Bausteinen und war noch niemals ernsthaft krank. Ganz begeistert ist das kleine Mädchen, als es endlich alt genug ist, um wie ihre beiden älteren Brüder zur Schule gehen zu dürfen. Stolz zieht sie mit ihrem neuen roten Schulranzen los, um die Welt der Buchstaben und Zahlen zu erobern. „Anja wird das mit der Schule ganz toll hinkriegen, du wirst schon sehen!“, meint Anjas Tante, als die Mutter zu Schulbeginn zögerlich meint: „Komisch, dass Anja sich bis jetzt standhaft geweigert hat, auch nur einen Buchstaben zu lernen. Nicht einmal ihren Namen wollte sie schreiben!“
Das Gefühl der Mutter trügt nicht. Anja ist das friedlichste und freundlichste Kind, solange sie nichts mit Buchstaben oder Zahlen zu tun hat. Soll Anja aber Wörter schreiben, Buchstaben lesen und Arbeitsblätter ausfüllen, so wird sie weinerlich und unzufrieden. Je länger das erste Schuljahr dauert, umso unglücklicher wird das dunkellockige Mädchen. Nur an Ferientagen und am Wochenende entspannt sie sich ein wenig. Naht aber der Montagmorgen und der neuerliche Start in eine Schulwoche, so wird Anja immer stiller. Sie verkriecht sich dann mit ihren Puppen in ihr Zimmer und spielt leise vor sich hin. Eines Tages hört die Mutter, wie Anja zu einer ihrer Puppen sagt: „Ja, begreifst du das noch immer nicht. Das ist ein b und kein d! Lies dieses Wort noch einmal, und hör endlich damit auf, jeden Buchstaben einzeln zu lesen, du musst ganze Wörter lesen!“ Die Mutter erschrickt. Woher hat Anja das? Wer spricht in dieser Art und Weise mit ihrer Tochter? Natürlich hat auch Anjas Mutter bereits gemerkt, dass mit Anja irgendetwas nicht stimmt. Karla, die beste Freundin ihrer Tochter, liest bereits fließend, und auch der kleine Nachbarsbub, der mit Anja in die selbe Klasse geht, ist immer viel schneller mit den Hausübungen fertig und möchte Anja zum Spielen abholen, wenn sie noch über dem ersten Satz brütet.
Anja hat Glück. Eine Förderlehrerin in ihrer Schule entdeckt gegen Ende des ersten Schuljahres, dass das Mädchen an einer speziellen Leserechtschreibschwäche, einer so genannten Legasthenie (griech.: legein = Lesen, Astheneia = Schwäche), leidet. Ein Kind gilt dann als legasthen, wenn es beim Lesen und bei der Rechtschreibung deutlich schlechter abschneidet, als die nicht sprachliche Intelligenz es vermuten lassen würde. Hinzu kommt, dass ein betroffenes Kind Probleme hat, sich zu konzentrieren, wenn es mit Buchstaben und Zahlen zu tun hat. In anderen Alltags- und Spielsituationen verfügen legasthene Kinder allerdings oft über eine sehr hohe Aufmerksamkeit und Ausdauer.
Wissenschaftliche Forschungen haben ergeben, dass die spezielle Leserechtschreibschwäche (Legasthenie) anlagebedingt ist und sich in einer differenzierten Sinneswahrnehmung beim Umgang mit Symbolen (Buchstaben und Zahlen) äußert. Das Kind muss nun aber für das Erlernen des Lesens und Schreibens Sinnesreize und Informationen aus seinem Körper und der Umgebung aufnehmen und im Gehirn verarbeiten, um dann die Reize mit einer angemessenen Reaktion und einer sinnvollen Handlung beantworten zu können. Niemand, der ohne Probleme Lesen und Schreiben lernt, hat sich jemals über diesen komplexen Vorgang Gedanken gemacht! Natürlich auch Anjas Mutter nicht. Als sie aber erfährt, wie schwierig es für ihre kleine Tochter ist, mit Symbolen umzugehen, kann sie ein kleines Bisschen das Buchstabenchaos, das sich in Anjas Köpfchen befinden muss, verstehen.
Anja ist nicht faul oder dumm, nein, sie leistet viel mehr Großartiges. Das kleine Mädchen muss sich viel mehr plagen, um in die Welt der Buchstaben und Zahlen Eingang zu finden. Und sie möchte es ja auch so gerne, und doch machen ihr die vielen verschiedenen Buchstaben und Wörter Angst!
Anjas Mutter lässt ihre Tochter bei einer Legastheniespezialistin austesten und erfährt, dass Anja besonders in den verschiedenen optischen Wahrnehmungsbereichen gefördert werden sollte. Die kleine Schülerin hat Probleme, Buchstaben und Wörter, die sie sieht, zu unterscheiden (Optische Differenzierung), sich zu merken (Optisches Gedächtnis) und in die richtige Reihenfolge zu bringen (Optische Serialität). Nachdem ein Augenarzt abgeklärt hat, dass Anja keine Sehschwäche hat, bekommt sie nun speziell auf ihre Leserechtschreibschwäche abgestimmte Übungseinheiten bei einer dafür ausgebildeten Legasthenielehrerin.
Viele legasthene Menschen haben zusätzlich eine differenzierte Wahrnehmung im akustischen Bereich. Das bedeutet, Betroffene können Buchstaben, Laute und Wörter, die sie hören, nicht richtig unterscheiden oder langfristig abspeichern. Dies erklärt, warum legasthene Kinder Wörter daheim gut geübt und auch richtig geschrieben haben, beim Diktat in der Schule genau jene Lernwörter dann falsch schreiben. Die Arbeit ist dann voller Fehler und der Schüler wird des Öfteren beschuldigt, nicht ordentlich gelernt zu haben. Ein Teufelskreis der Anschuldigungen, Verzweiflung und des Versagens beginnt.
Erst in den letzten Jahren haben die eingehenden Forschungen ergeben, dass die Legasthenie bei den einzelnen Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Früher kannte man lediglich „den Legastheniker, der Buchstaben und Zahlen verdreht“. Tatsächlich haben etliche Betroffene auch Raumwahrnehmungsprobleme, die nicht nur rechts / links verwechseln lassen, sondern eben auch aus einer „34“ eine „43“ werden lassen oder aus einem p ein q.
Zusätzlich gibt es auch immer wieder Schwierigkeiten mit dem Körperschema, das heißt mit dem Bezug des eigenen Körpers zum Raum oder anderen Gegenständen. Auch diese Sinneswahrnehmung ist bedeutsam für den Schreiblernprozess.
Für Anjas Mutter ist die Diagnose „Legasthenie“ eine Erleichterung. Sie weiß nun, dass Anjas Fehler keine Rechtschreibfehler im herkömmlichen Sinn sind, sondern Wahrnehmungsfehler. Das erklärt auch warum ihre Tochter dasselbe Wort in einem Text auf drei verschiedene Varianten schreibt und das vierte Mal sogar richtig! Anja probiert nicht alle Möglichkeiten aus, wie ihr bereits unterstellt wurde, sie bemerkt diese Fehler nicht einmal. Und genau da setzt ein gezieltes Wahrnehmungstraining an. Anjas Wahrnehmung wird geschult, trainiert und ihre Aufmerksamkeit beim Lese- und Schreiblernprozess gefördert. Anja lernt mit ihrer Legasthenie zu leben. Denn da diese spezielle Leserechtschreibschwäche genetisch bedingt ist, wird das Mädchen auch ein Leben lang legasthen bleiben, aber es kann durch das frühzeitige Training eine normale Schul- und Berufslaufbahn erleben.
Die frühzeitige Diagnose ist bei Legasthenie von großer Bedeutung. Alleine schon deshalb, um sie von einer allgemeinen Leserechtschreibschwäche (LRS) zu unterscheiden, die nicht anlagebedingt und anders zu behandeln ist. Schüler mit einer allgemeinen LRS haben aus den unterschiedlichsten Gründen keine ausreichenden Rechtschreibkenntnisse. Im Gegensatz zur Legasthenie sind ihre Fehler tatsächliche Rechtschreibfehler, die durch fleißiges und gezieltes Üben an den Fehlern ausgemerzt werden können. Betroffene Kinder haben keine differenzierte Wahrnehmung und schaffen den Ausweg aus ihrer LRS meist relativ rasch, wenn sie gezielte Hilfe erfahren. Ein nicht geschulter Laie kann diese beiden verschiedenen Leserechtschreibschwächen nicht unterscheiden, da die Fehlersymptomatik sehr ähnlich ist.
Bleibt eine spezielle oder eine allgemeine Leserechtschreibschwäche unerkannt, können oftmals zusätzliche Probleme (Sekundärsymptomatik) wie Frustration, Depression, Schul- und Lebensangst sowie andere Phobien auftreten, die dann ärztlicher Hilfe bedürfen. So weit sollte es aber bei ausreichender Aufmerksamkeit von pädagogischer Seite nicht kommen.
Anja übt fleissig und ist schon wieder viel zuversichtlicher geworden. Und doch liegt noch ein langer Weg vor ihr und auch vor ihrer Familie. Die zusätzlichen Übungseinheiten bei der Legastheniespezialistin und zuhause fordern viel von allen Beteiligten, aber die kleinen Erfolge, die Anja hie und da hat, sind eine schöne Belohnung für all die Mühe. Außerdem hat Anjas Mutter gelernt, bedingungslos zu ihrem Kind zu stehen. Ja, ihre Tochter lernt langsamer Lesen und Schreiben als ihre Altersgenossen, aber sie ist dennoch ein ganz besonders liebenswertes Mädchen und sehr sozial eingestellt. Außerdem kann Anja sehr gut singen, und deswegen darf sie im Kinderchor der Kleinstadt, in der sie leben, mitsingen. Und das macht Anja große Freude und schenkt ihr Erfolgserlebnisse, die gerade für legasthene Kinder so wichtig sind. In der Schule bekommen Betroffene wenig Lob, umso mehr sollten sie außerhalb erhalten.
Verständnis für das legasthene Kind ist besonders wichtig, aber auch für die betroffenen Eltern. Anjas Mutter ist sehr froh, dass in ihrer christlichen Gemeinde eine Kinderstundenleiterin auch sonntags auf Anjas Legasthenie Rücksicht nimmt. Das Kind muss nicht laut aus der Bibel vorlesen oder Verse auswendig aufsagen, wenn es das nicht möchte. Die Kinderstundenleiterin macht das so liebevoll und unauffällig, dass es die anderen Kinder kaum bemerken. Eines Tages fragte dann doch ein anderes Kind beleidigt: „Warum muss Anja den Vers nicht aufsagen?“ Seitdem lässt die Kinderstundenleiterin Anja den Vers manchmal singen, denn das fällt ihr leichter. Meistens dürfen aber mehrere Kinder den gelernten Vers gemeinsam aufsagen, so fällt Anjas Schwäche gar nicht auf und auch die anderen Kinder haben mehr Freude beim Lernen des Wortes Gottes. Auch in der Sonntagsschule kann man Übungen für die verschiedenen Sinnesbereiche sehr gut einbauen. Bibelgeschichten können auch mit akustischen oder optischen, und Raumwahrnehmungselementen erzählt werden. Dies ist auch für nicht legasthene Kinder sehr bereichernd! Ein Lernen mit mehreren Sinnen!
Legasthene Kinder aus christlichem Elternhaus sollten aber auch intensiv im Gebet begleitet werden. Anjas Legasthenietrainerin ist auch gläubig und betet mit dem Mädchen vor jeder Unterrichtseinheit. Auch Anjas Eltern beten mit ihrer Tochter gemeinsam um Geduld, Ausdauer und Freude beim lernen. Sie hat so nicht den Eindruck, dass Gott sie mit ihren Nöten alleine lässt. Gott liebt Anja genauso wie sie ist und möchte, dass sie eine frohe Erwachsene wird. Dies dürfen und müssen christliche Eltern ihren legasthenen Kindern immer wieder vermitteln. Des Öfteren benötigen diese Familien eben besondere Liebe und Aufmerksamkeit von ihrer christlichen Umgebung. Eine ältere Frau aus der Gemeinde hat Anja erzählt, dass sie als Kind selber Probleme mit dem Lesenlernen hatte. Da musste das Mädchen herzlich lachen, denn genau jene Frau verwaltet den Büchertisch!
Aber am meisten mag Anja die Geschichte von Moses, der Schwierigkeiten hatte ordentliche zusammenhängende Sätze zu sprechen und dann das Volk Israel durch die Wüste geführt hat! Auch Menschen, die als Kind langsamer beim Sprachelernen waren, können später ein sinnvolles Leben haben. Und manchmal ist das gerade deswegen so, weil legasthene Menschen für ihren (schulischen) Erfolg mehr leisten mussten als andere. Und als Erwachsene waren sie es gewöhnt konsequent zu arbeiten und sich über kleine Erfolge zu freuen und Rückschläge und Misserfolge einzustecken, auch Unverständnis von anderen zu ertragen und nicht allzu ernst zu nehmen. Oder eigene Schwächen auch einmal mit Humor zu tragen. Als Anja vor kurzem ihre Hausübung macht, ruft sie plötzlich: „Mama, das musst du sehen. Schau wie lustig ich dieses Wort geschrieben habe!“ und lacht dabei aus vollem Hals. Verwundert läuft die Mutter zu ihr, doch dann schmunzelt auch sie über den neu gewonnenen Humor ihrer Tochter und die Leichtigkeit, mit der sie es manchmal schafft, mit ihrer Legasthenie zu leben.
Akzeptanz, Eifer, Humor und Geduld – das sind wichtige Eckpfeiler für ein legasthenes Kind und seine Eltern. Das wusste bereits Leonardo da Vinci, Genie und …Legastheniker, als er in sein Tagebuch schrieb: „Gegenüber den großen Kränkungen erhöhe die Geduld; dann werden diese Kränkungen deinen Geist nicht verletzen können.“
Und das soll nicht geschehen: Dass leserechtschreibschwache Kinder den Mut und die Möglichkeit, doch lesen und schreiben zu lernen, verlieren! Denn es gibt einen Weg aus der Sprachlosigkeit und des Buchstabenwirrwarrs!
Manchmal ist er ein sehr steiniger, mit Liebe und Konsequenz ist er zu schaffen.
Mit Gott als Helfer und Ermutiger lässt er sich leichter bewältigen!
Es gibt ein Leben trotz und jenseits der Leserechtschreibleistung eines Kindes – dieses Wissen sollte über dem Leben jedes betroffenen Kindes stehen!
Roswitha Wurm, (Ethos 12/06)
BUCHTIPP:
Roswitha Wurm: Lese-Rechtschreib-Schwäche,
Tipps zur Früherkennung – Neue Ideen zur Förderung
Verlag: öbv & hpt
ISBN-13: 978-3209054685
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